Der Brief

Eigentlich wollte ich nur einen alten Koffer im Keller verstauen. Plötzlich traf mein blaues Aügelein auf eine Schachtel mit der Aufschrift persönlich. Ich dachte: Finger weg von fremden Objekten. Doch meine kleinen Wurstfinger waren mal wieder schneller als der innere Monolog im Hirnlappen. Schwuppdiwupp war die Schachtel geöffnet – das Pralinensyndrom schlug zu. Ein kurzer Blick, und ich wusste: da steckt ein Schatz drin.

Es waren alte Liebesbriefe von einem gewissen E.B..

„Freunde, Hand aufs Herz: Wer von euch war kein leidenschaftlicher Verfasser einer Liebesbotschaft?" Ich kramte in den leicht versifften, speckigen Zetteln. Als Erstes sprang mir natürlich der Klassiker ins Auge: Die drei wichtigsten Fragen in der Frühpubertät: Willst du mit mir gehen? Ja? Vielleicht? Nein?

Auf einem Blatt stand, vielleicht nur wenn du mich nicht küsst. Frühromantik war wirklich nicht leicht.

Die Geschichte des Liebesbriefes geht auf das Spätmittelalter des Planeten Erde zurück: Versliebesbriefe, die von Minnesängern überbracht oder in Liedform gebracht wurden. Kuschelröcke des Mittelalters, aber hey — Liebesbriefe waren oft nur an eine Person gerichtet, verstanden wurden sie meist nur von dieser. Manchmal wurden sie durch Indiskretion oder Promi-Veröffentlichung doch weitergetragen. Es gibt auch Ghostwriter-Liebesbriefe, die nur Schein-Wesentliches vorgaukeln.

Im Achtzehnten Jahrhundert gehörten Liebesbriefe zum guten Ton, Vorlagen inklusive. Heut zu Tage werden Liebesbotschaften höchstens per E-Mail oder WhatsApp verschickt. Was mir alles in die Hände fällt: schwülstige Textfassungen an die Angebeteten. Innige Bekenntnisse an die Frauen, die E. B. beim Schreiben der Botschaft sicher geheiratet hätte.

Ein Brief, pardon: ein Text, den ich euch nicht vorenthalten will. Zwar weiß ich nicht, was E. B. dazu veranlasste, dass er aus dem Schema ausbrach, doch er zeigt die Vielseitigkeit der Liebesbriefe in erstaunlicher Weise

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Du bist viel besser, als ich es zu sagen wage

Es reicht nicht aus, wenn ich nur liebe sage

Ich oute mich jetzt und behaupte hier

Du bist die schärfste Taste auf meinem Klavier

Jeden Morgen lächelst du mich an

Ich bin der Typ, der dir nicht widerstehen kann

Dein Blick, dein Körper — eine Waffe für sich

Dein süßer Schmollmund ist wie eine Droge für mich

Du bist die Frau, die mir schlaflose Nächte beschert

Morgens total müde, doch du bist es mir wert

Mein Munitionsdepot ist noch lange nicht leer

Du bist unendlich, ich lieb dich so sehr

Mein Herz tanzt Samba, du machst mich verrückt

Wenn ich dich anschaue, gibt’s kein Zurück

Du bist nicht schwarzweiß, dein Anblick ist bunt

Du saugst mich auf, wie eine Zecke den Hund

Es muss stets geschehen, wenn deine Bannstrahlen mich verführen

Wenn Vernunft von der Bühne geht und Hände mich berühren

Du bist mein Fluch, mein Segen, raubst mir meinen Verstand

Du blödes Playboy-Poster an meiner Wand

 

PS. Wie ich feststellen musste, stammt der Brief bzw. das Gedicht nicht von einem E. B. sondern von jemand Anderem!